1926 wurde das Gut Wall an die Landgesellschaft Eigene Scholle mit Sitz in Frankfurt a. d. Oder (1910 gegründet) verkauft. Die Landgesellschaft parzellierte das Gut und es entstanden 32 Siedlerhöfe zu je 40 bis 90 Morgen, die ab 1931 von Familien aus dem süddeutschen Raum, Schlesien, Ostpreußen, Pommern und aus der Mark Brandenburg besiedelt wurden. Darunter befand sich die aus Württemberg stammende Familie von Wilhelm und Lydia Stolz, die am 10.02.1932 vom Stuttgarter Bahnhof mit dem Zug aufbrach, um in der fernen Mark Brandenburg ein neues Leben zu beginnen. Erhalten ist uns ein von Lydia Stolz verfasster Rundbrief an den Bekanntenkreis über das erste Siedlungsjahr.
Rundbrief der Lydia Stolz an den Bekanntenkreis
– Ein Bericht über das erste Siedlungsjahr in Wall in der Mark Brandenburg –
Wall im Hornung 1933
Es ist ein ganzes Jahr vergangen, seitdem Ihr lieben Geleitsmannen und -Frauen und -Fräuwelein uns aus der Stuttgarter Bahnhofshalle hinausgesungen habt. Euch soll dieser Rundbrief auch zuerst erreichen. Wir zogen zu vieren aus, von den einen mit viel herzlichen guten Wünschen begleitet, kopfschüttelnd von den anderen, in ein unbegreifliches, abenteuerliches Leben. […] Von unserer Fahrt selbst lässt sich wenig erzählen. Wir haben gesungen, geflötet, gevespert und geschlafen. Auch ein geheimnisvolles Paket bestaunt, das uns Stuttgarter Freunde noch zugeschoben hatten. Um Halle herum fing es an zu tagen. Wir kamen in gespannte Erwartung. Ein weites, flaches Land war zu sehen, vereinzelte Windmühlen und das Wahrzeichen dieser Gegend, die Kiefer in kleinen und großen Gruppen, und mächtigem Wuchs, wie man sie bei uns selten sah. So etwa sieht also unsere neue Heimat aus, und nun musste bald Berlin kommen. Von seinem äußeren Bild hatten wir mehr erwartet, es ist nicht zu vergleichen mit der herrlichen Lage Stuttgarts. Zuerst sieht man unzählige Fabrikkamine, verrußte Fabriken und Wohnhäuser. Selbst der Anhalter Bahnhof erinnert an den alten Stuttgarter, in nur etwas größerem Format. Das will also Berlin sein, die Stadt, in der die Geschicke unseres Volkes ausgeklügelt werden. Wir fuhren vom Anhalter- zum Stettiner Bahnhof und bekamen einen wesentlich besseren Eindruck. Heute wissen wir, dass diese Riesenstadt manches Kleinod in Bauwerken, Sammlungen und Kunstschätzen von ungeheuren Werten birgt. […] Wir waren nicht mehr weit vom Ziel, als unser Zug in Richtung Neuruppin aus der Halle fuhr. Es kamen die Berliner Vororte: Tegel, Reinickendorf, Hennigsdorf, dann Velten, Vehlefanz, Schwante, Kremmen und Beetz-Sommerfeld, die letzte Station. Wir schmissen die Rucksäcke auf den Buckel; und nahmen das übrige Zeug zur Hand, um über Beetz nach Wall zu wandern, noch eine gute Stunde weit. Da tauchte plötzlich eine Kutsche mit dem einen von uns wohlbekannten Gesicht des Kutschers auf. „Grüß Gott, wo wollen Sie denn hin?“ „Ihnen abholen!“ Wir strahlten und saßen auch schon drin fest. So gewannen wir Zeit, es war schon um Mittag, und heute musste das Umzugsgut noch ausgeladen werden, zudem war der Weg nach Wall durchgeweicht und schlecht zu gehen. Unsere Augen suchten in der Ferne das erste Haus der Siedlung, unser Haus, unsere neue Heimat. Da hielt auch schon die Kutsche. Wir trugen unser Gepäck hinein. Wilhelm rannte durch alle Räume, Ställe und die Scheune. Die Stube war zu unserer Freude schon geheizt und auch Feuer im Herd. Wir wärmten uns auf und fuhren dann weiter zum Rittergut, um unsere Ankunft zu melden. Dort stand ein gut schwäbisches Mittagsmahl für uns bereit, das wir dankbar annahmen. […]
Es war sonst noch keine Siedlung hier draußen bei uns bewohnt. Das trübe Wetter hellte sich auf, und die Sonne bestrahlte das ganze Gelände. Man sah in unendliche Weiten. Im Süden ragen die Funktürme von Nauen, für uns das einzige sichtbare Zeichen der fortgeschrittenen Technik, sonst sieht man überall Wiesen, Feld und Wald. Im Südosten glänzt der Kremmener See herüber. Um uns herum unser Land, eigene Scholle, auf der wir künftig schaffen und werken werden, bei gesunder Arbeit in Luft und Sonne – Heimat. Als alles so einigermaßen zurechtgebracht war, ließ sich auch die notwendigste Außenarbeit übersehen. Da wurden zuerst Steine beigeführt, zu einer besseren Einfahrt in den Hof. Dann in den Wald gefahren und Stangen geholt, diese geschält und für Weide- und Gartenpfähle zugerichtet. Wir hatten 30 Morgen Weide vorerst einmal zu umzäunen und in größere Flächen einzuteilen. Erst nach und nach können wir die ganze Weide sachgemäß einteilen, weil man die Kosten für Pfähle und Draht nicht auf einmal aufbringen kann. Der Kuhstall füllte sich so nach und nach, dazu kauften wir 2 Pferde, Murgel und Lotte. Die Feldarbeit begann mit Quecken ablesen, unser Ackerland ist damit reichlich bedacht, in ein paar Jahren haben wir sie vielleicht los. Der Boden ist sonst sehr gut. Also, das Queckenablesen war unsere erste Übung, eine Gymnastik, die nichts kostete. Dann konnte Gerste, Weizen, Hafer und Rüben gesät werden. Nach diesem waren 80 Zentner Saatkartoffeln auszulesen, dann kam das Kartoffelstecken, dazwischenhinein wurde im Garten das Nötigste getan. Die Saat ging auf, grünte und wuchs, und mit ihr freilich auch das Unkraut, da gingen wir in die Disteln. Wie schön blühte uns der Maien. Wir hätten nicht gedacht, dass der Frühling nach den scharfen Winden des März und April, hier so schön wäre, oder war es nur, weil man jeden Tag mitten in ihm wohnte? An Pfingsten hüteten wir das Vieh auf der Weide und ließen die Berliner Pfingstwanderer im Zug an uns vorbeisaussen. Wir hatten ein Mädeles- und Bubenlager, sangen zur Flöte und trieben allerlei Unsinn. Nach ein paar Tagen war diese Romantik zu Ende, weil die Zäune fertig geworden waren. Das Vieh kam nun jeden Tag hinaus und wurde zum Melken hereingeholt. Das Kartoffel- und Rübenhacken fing an. Am Abend waren wir rechtschaffen müd. Die ungewohnte Bewegung tat den Knochen weh. […] So um die Mitte des September herum machten wir uns an die Kartoffelernte. Mit dem Kartoffelroder wurden sie herausgehoben, dann musste man sie auflesen, Kartoffelbuddeln sagt man hier. Dies taten wir eine Woche lang. Wir hatten meist schönes Wetter dazu. Ende September wurden 13 Morgen Roggen gesät. Nach einer Woche ging die Saat auf, immer wieder tauchte frisches, junges Grün im Gelände auf, schon das tägliche Brot für das kommende Jahr. […]
Wohl habt Ihr nun ein umfassendes Bild von unserem Umtrieb, aber es dünkt uns, dass Ihr über Wall und seine weitere Umgebung noch mehr wissen möchtet. Im Lauf des Sommers zogen die Siedler nacheinander auf. Seit Spätherbst ist das ganze frühere Rittergut mit 33 Bauernstellen besiedelt. Davon sind 11 Familien aus Württemberg: 3 aus Gechingen, 2 aus Cannstatt, je 1 aus Schönaich, Echterdingen, dem Allgäu, der Heilbronner und der Haller Gegend. 6 Schwabenfamilien, darunter auch wir, wohnen alle beisammen im Vorwerk Theresienhof, das früher ein Gut für sich war und später zu Wall kam. Zum Gut haben wir eine gute Viertelstunde zu laufen, dafür ist es ins nächste Dorf Beetz und zur Kirche von uns aus näher. Die anderen Siedler sind aus Schlesien, Ostpreußen, Pommern und aus der Mark Brandenburg selbst gekommen. Die Gründung von Genossenschaften ist jetzt spruchreif geworden. Der Milchgenossenschaft sind alle Siedler angeschlossen. […] Wer aus Süddeutschland hierher kommt mag unsere Gegend öd und langweilig finden, doch das scheint nur so. Die Vielgestaltigkeit liegt hier nicht so beisammen wie im Schwabenland. Man muss schon tippeln bis man zu Wald und See kommt. […] Zum Schluss wollen wir zum Siedeln selbst noch einiges sagen. Es hat nach dem Erzählten vielleicht etwas Verlockendes an sich. Am Anfang unseres Hierseins sagten wir zusammen: „Es ist noch lange nicht gesiedelt, wenn man nur in ein fertiges Haus einziehen braucht. Das Siedeln unserer Vorväter war doch ein ganz anderes“. Heute sagen wir: „Es ist doch gesiedelt.“